Hamburg hat gewählt – Expertinnen rufen die neue Landesregierung zu Politikwechsel auf

Forderungen an einen Politikwechsel in der Hamburger Jugendhilfe
von Dr. Charlotte Köttgen, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Prof. Dr. Ursel Becher, Sozialdezernentin i.R., Christiane Mettlau, Landesreferentin im Verband für Sonderpädagogik (vds) und Cordula Stucke, Leitung Kinderschutzzentrum Hamburg

Die derzeitige Situation der Jugendhilfe in Hamburg veranlasst uns, die im Folgenden vorgestellten Forderungen für eine zukünftige Jugendhilfepolitik in Hamburg zu formulieren. Wir vermissen politische Zielvorstellungen, die sich an den gesellschaftlichen Realitäten und den Intentionen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) orientieren. Stattdessen erleben wir das Agieren und Reagieren im Jugendhilfebereich als eine nicht aufeinander bezogene Ansammlung von Maßnahmepaketen, Projekten und individuellen Einzelfallmaßnahmen. Das ist teuer und ineffektiv.

„Wir vermissen politische Zielvorstellungen, die sich an den Intentionen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes orientieren.“

Beispiele dafür sind: immer noch zu viele stationäre statt ambulanter Hilfen und extrem häufige Abschiebung von Kindern in Einrichtungen außerhalb Hamburgs. Die Thematik schwieriger, sozial benachteiligter, dissozialer, oder gar „krimineller“ Kinder und ihrer Familien ist enorm medienbelastet. Skandal – Beispiele wie „Kevin“, „Jessica“ oder der Fall „Elias“ (ein Jugendlicher, der einen 19 jährigen auf dem Jungfernstieg niedergestochen hat) führen zu hektischen Reaktionen der Politik und reiben die Handelnden zwischen Schuldzuweisungen, Bagatellisierung der sozialen Probleme und Skandalisierung auf. Oft fehlt es an langfristiger Unterstützung durch
konsistente fachliche Steuerung und an gestaltender Kraft entfaltender Jugendhilfepolitik.

„… zu viele stationäre Hilfen und extrem häufige Abschiebung von Kindern in Einrichtungen außerhalb Hamburgs.“

Wir stellen fest: mit dem KJHG haben wir eine Beteiligungs-, Lebenswelt- und Sozialraumorientierte moderne Gesetzesgrundlage. Insbesondere die §§ 79 und 80 KJHG „Gesamtverantwortung“ und „Jugendhilfeplanung“ weisen richtigerweise darauf hin, wie wichtig institutionalisierte staatliche Steuerung und Verantwortung sind. Deshalb ist unsere zentrale Forderung die Wiederherstellung eines fachlich kompetenten Landesjugendamtes, das die Probleme randständiger Familien berücksichtigt und das den Zielbestimmungen und Prinzipen des SGB VIII Rechnung trägt:

  • Leistung statt Eingriff
  • Prävention statt Reaktion
  • Flexibilisierung statt Bürokratisierung
  • Demokratisierung statt Bevormundung.
  • Partizipation und Freiwilligkeit

„Auflösung des zentralen Familien – Interventionsteams und Eingliederung in die allgemeine bezirkliche Jugendhilfe.“

Wir brauchen in Hamburg wieder eine Jugendhilfeplanung die der Gesamtverantwortung des öffentlichen Trägers und dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes gerecht wird und die freien und gemeinnützigen Träger der Jugendhilfe steuernd einzubinden vermag. Da sich Jugendhilfe in aufgeladenen gesellschaftlichen Spannungsfeldern ereignet, sind entsprechend der Ziele des KJHG staatliche Planung und Steuerung, integrierende Politikansätze und demokratische Beteiligung sowie nachhaltige Hilfeorientierung unumgänglich. Beispiele:

  • Notwendig sind strukturell verankerte und gut koordinierte Jugendhilfeangebote in der Region, die zur selbstständigen Lebensführung beitragen (in Anlehnung an den §19 der UN – Behindertenrechtskonvention), statt Kinder in stationäre Einrichtungen (über die Landesgrenzen hinaus) zu exportieren, zu kriminalisieren, zu psychiatrisieren oder sie medikamentös ruhig zu stellen. Staatliches Handeln sollte die konsequente Eingliederung in ein möglichst normales Leben zum Ziel haben.

  • Zentrale Paradigmen des KJHG sind die Stärkung von basaler Infrastruktur (z.B. ausreichend qualifizierte Kitaplätze), Existenz- und Alltagssicherung (z.B. Sozialwohnungen, kindergerechtes Wohnumfeld) anstelle punktuellen projekthaften Reagierens. Dazu bedarf es einer behördenübergreifenden Strategie zur Verstärkung der Kooperation im Hilfesystem. Jugendhilfe, Schule und Gesundheitshilfe gehören zusammen, um die Lebensperspektiven von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und ihre Familien dabei zu unterstützen.

  • Die Hilfeorientierung des KJHG wird durch eingriffsorientierte Spezialprojekte untergraben. Mit dem zentral angesiedelten Familien – Interventionsteam wurde ein „8. Jugendamt“ geschaffen und mit Kapazitäten und Finanzierungsmöglichkeiten ausgestattet, die regional fehlen. Das führt zu ineffektiven Parallelstrukturen und einer Schwächung der regulären Dienste. Dieser „interventionistische“ Politikansatz liegt auch dem Maßnahmepaket „Gewalt im Kindesalter (GiK)“ zugrunde.

 „Umsteuerung der Ressourcen von eingriffsorientierten Spezialangeboten in die Regelversorgungsstrukturen.“

Forderungen:

  1. Wiederherstellung eines fachlich ausgewiesenen Landesjugendamts, das durch konsistente fachliche Steuerung gestaltend im Sinne des KJHGs wirkt und die Probleme randständiger Familien berücksichtigt.

  1. Fachliche, qualitativ ausgerichtete Ergebnisorientierung, die sich auf die gesetzlichen Vorgaben des KJHG bezieht, muss Grundlage für die betriebswirtschaftlicher Steuerung sein und nicht umgekehrt.

  1. Die Konflikte zwischen der Fachbehörde und den Bezirken in der Frage der Zielvorgaben und insbesondere in der Finanzierung müssen politisch gelöst werden.

  1. Orientierung der Maßnahmen nicht nur am Individuum, sondern an den Bedingungen im spezifischen Sozialraum (Familie, Einkünfte, Schule, Wohnumfeld etc.).

  1. Integrierte behördenübergreifende Planungs- und Problemlösungsstrategien – orientiert an Prinzipien des Dormagener Modells (d.h. präventiver Ansatz, Einbeziehung aller Familien, Orientierung von Hilfsangeboten an kritischen Lebensphasen und Übergängen in der kindlichen bzw. familiären Entwicklung).

  1. Auflösung des zentralen Familien – Interventionsteams und Eingliederung in die allgemeine bezirkliche Jugendhilfe sowie Umsteuerung der finanziellen Mittel und personellen Ressourcen von eingriffsorientierten Spezialangeboten in die Regelversorgungsstrukturen.

  1. Gestaltung des Generationswechsels in der Sozialen Arbeit mit der Prämisse, einem Kompetenzverlust entgegenzuwirken, Erfahrungswissen zu sichern und die Arbeitsbedingungen im Dialog mit den Beschäftigten zu gestalten.

Den Aufruf finden Sie zum downloaden unter:
http://www.vkjhh.de/fileadmin/download/Politikwechsel_in_der_Jugendhilfe.pdf

Mit freundlichen Grüßen –

das VKJH-Geschäftsstellenteam

zitiert nach: Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg e.V.